Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung

Dr. Rainer Haas

Stadtwaldstr. 45a, D-35037 Marburg, Tel.: 06421/93084, Fax: 06421/93073

email: haasr@gmx.net

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Chemie, Toxikologie und Analytik von Lewisiten

1Rainer Haas, 2Peter Rausch

1 Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Stadtwaldstr. 45a, D-35037 Marburg

2 Hazard Control GmbH, Versuchsfeld Trauen, D-29328 Faßberg

Korrespondenzautor: Dr. Rainer Haas



Zusammenfassung

Das chemische Verhalten von Chlorvinylarsinverbindungen (Lewisite) wird beschrieben. Mit Modellreaktionen wurde das chemische Verhalten von Chlorvinylarsinverbindungen untersucht und eine thermodynamische Stabilitätsreihe der Verbindungen abgeleitet. Aus dieser Stabilitätsreihe lassen sich die beschriebenen toxischen Effekte ableiten. Methoden zur chemisch-analytischen Untersuchung der Lewisite und ihrer Metabolite werden dargestellt.

Schlagwörter: Analytik, Derivatisierung; Analytik, Thiole; Analytik; Arsenverbindungen; chemische Kampfstoffe; chemische Reaktionen; Chlorvinylarsine; Lewisite; organische Arsenverbindungen; Rüstungsaltlasten; Thiole; Toxikologie



Abstract

Chemistry, Toxicology and Analysis of Lewisite

The chemical behaviour of chlorvinylarsines (lewisites) is described. This chemical behaviour was investigated with model reactions. The thermodynamic stability of the reaction products was derived by this model reactions and compared with the toxicological effects. Methods for the analytical detection of lewisites and their metabolites are shown.

Keywords: Analysis; analysis, derivatization; analysis, thiols; arsenic compounds; chemical reactions; chemical warfare agents; cwa; chloro vinyl arsenic compounds; lewisite; organic arsenic compounds; thiols; toxicology



1 Einleitung

1917 stellte der amerikanische Chemiker Lewis erstmals die chemische Verbindung 2-Chlorvinylarsindichlorid her und schlug aufgrund der starken hautschädigenden Wirkung ihre Anwendung als chemischen Kampfstoff vor.

Chlorvinylarsinverbindungen wurden nach ihrem Entdecker "Lewisite" benannt. Sie wurden von den USA während des ersten Weltkrieges als chemische Kampfstoffe hergestellt, kamen jedoch nicht zum Einsatz. Während des zweiten Weltkrieges wurden Lewisite von den USA, Großbritannien und der Sowjetunion produziert und in Munition abgefüllt.

Nach dem zweiten Weltkrieg verfügten (und verfügen bis heute) die USA und Rußland über beträchtliche Lewisit-Lagerbestände. Für Rußland stehen z.B. 6.500 t Lewisit nach dem Chemiewaffenabkommen zur Vernichtung an. Die Umweltgefährdung durch Lewisite ist also, im Gegensatz zu den Blaukreuzkampfstoffen Pfiffikus (Phenylarsindichlorid) und Clark I und II (Diphenylarsinchlorid und -cyanid), die im ersten Weltkrieg als chemische Kampfstoffe eingesetzt und während des zweiten Weltkrieges produziert und verfüllt wurden [1], nicht nur ein Problem der Rüstungsaltlasten.

In Deutschland wurden keine Lewisite produziert. Jedoch sind Funde von Lewisit-gefüllter alliierter Munition bekannt. In [2] und [3] wurde an einem Fallbeispiel die Folgen einer mutmaßlichen Lewisit-Vergiftung aus der Nachkriegszeit beschrieben.

In diesem Beitrag werden wichtige chemische Reaktionen und die toxikologische Bedeutung von Lewisiten beschrieben sowie die von unserer Arbeitsgruppe entwickelten Methoden zum analytischen Nachweis von Lewisiten im Spurenbereich vorgestellt.



2 Chemie von Lewisit I

Im folgenden werden einige wichtige Reaktionen von Lewisit I, die bezüglich des Verhaltens in der Umwelt bedeutsam sind, dargestellt [4]. Das chemische Verhalten wird hauptsächlich durch folgende Eigenschaften geprägt:

* Die Lewisite sind dreiwertige organische Arsenverbindungen. Durch Oxidationsmittel können sie zu As(V)-Verbindungen oxidiert werden.

* Die Chlorvinyl-Arsen-Bindung ist stabiler als die Chlor-Arsen-Bindung, jedoch instabiler als die Phenyl-Arsen-Bindung. So sind, anders als bei den Phenylarsin-Verbindungen, auch Reaktionen beschrieben, bei denen die Chlorvinyl-Gruppe vom Arsen abgespalten wird.

* Wichtige chemische Reaktionen sind Gleichgewichtsreaktionen.

Die Hydrolyse von 2-Chlorvinylarsindichlorid [Cl-CH=CH-As-Cl2] ist eine Gleichgewichtsreaktion und verläuft über mehrere Stufen:

Im ersten, schnellen, Reaktionsschritt wird Chlorvinylarsonigsäure [Cl-CH=CH-As-(OH)2] gebildet, die unter Wasserabspaltung zu Chlorvinylarsinoxid [Cl-CH=CH-As=O] umgewandelt wird. In einem weiteren Reaktionsschritt polymerisiert das Oxid [(Cl-CH=CH-As-O)n]. Alle Reaktionsschritte sind Gleichgewichtsreaktionen. Schon in schwach alkalischen Lösungen läuft die Hydrolyse beschleunigt ab, im salzsauren Milieu wird aus den Hydrolyseprodukten die Ausgangsverbindung 2-Chlorvinylarsindichlorid zurückgebildet.

2-Chlorvinylarsindichlorid unterliegt einer schnellen Hydrolyse, 2,2´-Dichlordivinylarsin hydrolisiert langsamer zu Bis(2,2´-Dichlordivinylarsin) [(Cl-CH=CH)2As-O-As(Cl-CH=CH)2], 2, 2´,2´´-Trichlortrivinylarsin reagiert nicht mit Wasser.

In wäßrigen Alkalihydroxid-Lösungen wird Chlorvinylarsindichlorid in Ethin und Arsenit, in wäßrigen Natriumsulfit-Lösungen in Ethin und Arsensulfid gespalten.

In wäßrigen Lösungen von Oxidationsmitteln wie Salpetersäure, Hypochloriten oder Wasserstoffperoxid entsteht 2-Chlorvinylarsonsäure [Cl-CH=CH-As(O)(OH)2]. In wäßrigen Alkalihydroxid-Lösung wird die Arsonsäure teilweise in Ethin und Arsenat gespalten.

Bei Temperaturen oberhalb von 100°C zersetzt sich 2-Chlorvinylarsindichlorid (Lewisit I)unter Bildung von 2,2´-Dichlordivinylarsinchlorid (Lewisit II), 2,2´,2´´-Trichlortrivinylarsin (Lewisit III) und Arsentrichlorid.



3 Humantoxikologie der Lewisite

3.1 Akute Toxizität

Die letale Dosis (LD50) von 2-Chlorvinylarsindichlorid beträgt bei perkutaner Resorption 20 mg/kg, bei peroraler Resorption 10 mg/kg. Die Toxodosis L(Ct)50 beträgt 1,3 mg/l * min, die kampfunfähig machende Toxodosis I(Ct)50 0,3 mg/l * min [5]. Klimmek et al. (1983) nennen folgende Daten: L(Ct)50 inhalativ: 1,2-1,5 mg/l * min; L(Ct)50 perkutan: 100 mg/l * min; I(Ct)50 Auge: 0,3 mg/l * min; I(Ct)50 perkutan: 1,5 mg/l * min, LD50: 35 mg/kg; tödliche Luftkonzentration: 48 mg/m3 für 30 min; blasenbildende Luftkonzentration: 3.440 mg/m3 [7].

Bie Hautkontakt dringt Lewisit unter leichtem Brennen in die Haut ein. Bereits nach wenigen Minuten rötet sich die Haut und bildet nach ca. 10 bis 15 Stunden Blasen, die nach 4 bis 5 Tagen zusammenfallen. Im weiteren Verlauf entstehen Ödeme und Gewebsnekrosen. Die nekrotischen Zerstörungen sind stärker als beim Schwefellost, besitzen jedoch eine günstigere Heilungstendenz, da sich die Epidermis schneller regeneriert als bei einer Schwefellost-Vergiftung und kaum Infektionen zu erwarten sind. Lewisitverletzungen zeigen nach 5 Tagen eine deutliche Besserung [1,4,5,11].

Büscher führte Untersuchungen am Menschen mit Ethylarsindichlorid (Dick), Lewisit und Dichlordiethylsulfid (Schwefel-Lost, S-Lost) durch und beschreibt vergleichend die Entwicklung der Hautschädigungen [6]. Er schreibt [6, S. 155]:

"Die Versuchsmenschen schätzen Lewisit, besonders wenn sie Dichloraethylsulfid längere Zeit haben kennen lernen, in seiner Giftigkeit nicht sehr hoch ein. Ein Versuchsmensch, auf dessen Haut ich Lewisit und Dichloraethylsulfid in erheblichen Mengen hatte wirken lassen, sagte mir im Stadium der Genesung: "ich will lieber 10 Tropfen Lewisit haben, als einen Tropfen Dichloraethylsulfid". Das ist vielleicht etwas übertrieben; aber wer viel mit diesen Stoffen experimentiert, der sieht in den Lewisit-Schädigungen, wenn er zugleich Dichloraethylsulfid-Schädigungen zu behandeln hat, doch Schädigungen verhältnismäßig leichterer Natur."

Augenkontakt mit dampfförmigem Lewisit führt zu Brennen und Rötung der Augen, Tränenfluß, Lidkrampf und Lichtscheue. Schwere Vergiftungen (Lewisittropfen) führen nach 7 bis 10 Tagen zur Erblindung mit Verlust des Augapfels [4,6,11].

Inhalation von Lewisit löst starke Reizerscheinungen wie Kratzen im Hals, Husten, Schnupfen und Niesen aus [4].

Übelkeit, Kopfschmerzen, Erbrechen, Stimmverlust und Atemnot, im späteren Krankheitsverlauf auch Lungenödem und Bronchopneumonie mit z.T. tödlichem Verlauf treten bei Inhalation größerer Mengen von Lewisit auf [4].

Nach oraler Aufnahme äußert sich die Vergiftung durch intensiven Speichelfluß, Erbrechen, Koliken und blutigen Durchfällen. Schwere Vergiftungen können nach oraler Lewisitaufnahme zum Tode führen [4].

Neben den o.g. Symptomen sind nach Resorption von Lewisit toxische Allgemeinerscheinungen wie Schwindel, Schwäche, Blutdruckabfall, Apathie sowie Kreislaufkollaps beschrieben. Schädigungen von Nieren, Leber, Milz sowie des zentralen Nervensystems sind möglich [1,4].

Die oben beschriebenen Symptome sind auf Kombinationswirkungen des mit Lewisit II und Lewisit III verunreinigten Lewisit I zurückzuführen: für die Schädigung von Haut und Augen ist hauptsächlich Lewisit I, für die Reizerscheinungen hauptsächlich Lewisit II und für die allgemeintoxischen Wirkungen hauptsächlich Lewisit III verantwortlich.



3.2 Chronische Toxizität

An chronischen Krankheitsbildern nach Lewisitvergiftung sind Augenentzündungen, Atemwegserkrankungen, gastrointestinale Störungen, psychopathologische und neurologische Störungen, Abgeschlagenheit, Degeneration von Herz, Leber und Nieren sowie Hauterkrankungen wie Arsenmelanose und Hyperkeratose beschrieben [1,2].



3.3 Resorption und Verteilung

Chlorvinylarsinverbindungen werden über die Haut resorbiert. Weiterhin können sie oral und inhalativ als Aerosol oder Dampf aufgenommen werden. Das leicht hydrolisierbare 2-Chlorvinylarsindichlorid verbleibt nahe der Resorptionsstelle nach Bildung stabiler cyclischer Komplexe mit biochemischen Molekülen, die zwei freie Thiolgruppen enthalten. Das schwerer hydrolisierbare 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid wird zunächst ebenfalls nahe der Resorptionsstelle an freie Thiolgruppen von Enzymen und Proteinen, die Cystein- bzw. Cysteamin-Gruppen enthalten, gebunden. Diese Bindung kann jedoch z.B. durch Glutathion aufgehoben werden. 2,2',2''-Trichlortrivinylarsin wird nach Resorption über das Blut verteilt und entfaltet seine allgemeintoxische Wirkung vermutlich erst nach Abspaltung einer Chlorvinyl-Gruppe.



3.4 Chemische Struktur und toxikologische Wirkung

Dreiwertige organische Arsenhalogenide besitzen einerseits eine hautschädigende Wirkung, andererseits lösen sie Reizwirkungen des Hals- und Rachenraumes aus. Die Stärke der o.g. toxischen Wirkungen ist abhängig von der Zahl der organischen Substituenten sowie von der Struktur der organischen Substituenten, da die Chlor-Arsen-Bindung im Gegensatz zur Bindung des organischen Restes leicht substituiert wird.

Arsenverbindungen mit zwei organischen Substituenten üben Reizwirkungen auf den Nasen- und Rachenraum aus. Sie gehören zur Gruppe der Blaukreuzkampfstoffe. Die wichtigsten Vertreter dieser Gruppe sind Diphenylarsinchlorid (Clark I), Diphenylarsincyanid (Clark II) sowie Phenarsazinchlorid (Adamsit). Über die Eigenschaften dieser chemischen Kampfstoffe wurde bereits ausführlich berichtet [2,3a]. Die stärkste Reizwirkung geht von Aryl-Arsen-Verbindungen aus, Alkyl-Arsen-Verbindungen besitzen eine deutlich geringere Reizwirkung.

Arsenverbindungen mit einem organischen Substituenten besitzen hautschädigende Wirkung. Der wichtigste Vertreter der hautschädigenden Arsenkampfstoffe, die zur Gruppe der Gelbkreuzkampfstoffe (wie die Loste) gehören, ist 2-Chlorvinylarsindichlorid (Lewisit I). Die hautschädigende Wirkung ist abhängig vom organischen Substituenten und nimmt von Chlorvinyl über Alkyl zu Aryl ab. Mit der Länge der Alkylgruppe sowie bei Substitution der Chloratome durch andere Atome oder Atomgruppen verringert sich die hautschädigende Wirkung.

2-Chlorvinylarsindichlorid (Lewisit I) besitzt eine starke hautschädigende Wirkung und nur eine geringe Reizwirkung auf den Hals- und Rachenraum.

2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid (Lewisit II) besitzt nur eine geringe hautschädigende Wirkung, dafür aber eine stärkere Reizwirkung, die jedoch bei weitem nicht die Stärke der o.g. Blaukreuzkampfstoffe besitzt.

2,2',2''-Trichlortrivinylarsin (Lewisit III) ist kaum hautschädigend, besitzt nur eine geringe Reizwirkung, ist jedoch von starker allgemeiner Toxizität.



3.5 Wirkungsmechanismus

2-Chlorvinylarsindichlorid (Lewisit I) reagiert mit Enzymen und Proteinen, die zwei freie Thiolgruppen enthalten, in einer Substitutionsreaktion zu stabilen cyclischen Verbindungen. Für die hautschädigende Wirkung ist die Blockade der proteingebundenen Liponsäure, die für den Abbau von Pyrovat im Gewebe notwendig ist (Pyrovatoxidase), verantwortlich. Aber auch weitere Proteine und Enzyme, die zwei freie Thiolgruppen enthalten, werden durch 2-Chlorvinylarsindichlorid durch die Bildung cyclischer Verbindungen blockiert.

2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid (Lewisit II) reagiert ebenfalls mit der proteingebundenen Liponsäure, kann aber keine cyclischen Verbindungen bilden, sondern nur an eine freie Thiolgruppe gebunden werden. Aus diesem Grunde ist die hautschädigende Wirkung auch wesentlich geringer als die von 2-Chlorvinylarsindichlorid. Die Reizwirkung kann, ebenso wie bei den Blaukreuzkampfstoffen, mit diesen Reaktionen nicht erklärt werden. Vermutlich findet eine Bindung an die Enden der sensiblen Nerven aufgrund von Strukturähnlichkeiten mit Botenmolekülen statt.

2,2',2''-Trichlortrivinylarsin (Lewisit III) besitzt keine freie Substitutionsstelle (Chloratom) und kann keine Verbindungen mit thiolhaltigen Enzymen und Proteinen eingehen. Dies wurde modellhaft durch Umsetzung mit verschiedenen Thiolen und Dithiolen gezeigt (eigene Versuche, s. Kap. 5). sowohl die hautschädigende Wirkung als auch die Reizwirkung ist wesentlich geringer als bei den beiden o.g. Verbindungen. Die allgemeintoxische Wirkung ist wohl auf eine Abspaltung der Chlorvinyl-Gruppe zurückzuführen.



4 Chemische Modellreaktionen

4.1 Allgemeines

2-Chlorvinylarsindichlorid und 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid wurden mit verschiedenen Alkoholen, Monothiolen und Dithiolen umgesetzt. Die Ergebnisse sind in verschiedenen Publikationen im Detail beschrieben [12-16] und sollen hier übersichtsmäßig dargestellt werden.

Die Versuche wurden mit einer 2-Chlorvinylarsindichlorid-Konzentration von 76 µg/ml, einer 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid-Konzentration von 70 µg/ml, Alkoholkonzentrationen von 50 mg/ml bzw. Thiol- und Dithiol-Konzentrationen von 400 µg/ml in Aceton als Reaktionsmedium in 1,4 ml-Vials bei einer Temperatur von 20°C durchgeführt.

Die Untersuchungen wurden gaschromatographisch unter folgenden Bedingungen durchgeführt: Säule: DB 5, Länge 30 m, Durchmesser 0,25 mm, Filmdicke 0,25 µm; Trägergas: Stickstoff, Fluß: 1 ml/min; Säulentemperatur: Temperaturprogramm 100°C (1 min), 10°C/min bis 230°C, 230°C (6 min); Injektortemperatur: 250°C; Detektortemperatur: 300°C; Detektor: ECD; Injektionsvolumen: 1 µl.

Drei Minuten nach Reaktionsbeginn erfolgten die ersten Analysen, sie wurden über einen Zeitraum von drei Tagen kontinuierlich fortgesetzt. Die bei +4°C gelagerten Reaktionslösungen wurden in den folgenden drei Wochen mehrfach erneut vermessen. Die Identifizierung der entstandenen Derivate erfolgte mit GC/MS. Die Derivate sind in den Reaktionslösungen stabil.



4.2 Reaktion mit Alkoholen

2-Chlorvinylarsindichlorid und 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid wurden mit folgenden Alkoholen umgesetzt: Methanol, Ethanol, 1-, 2- und 3-Propanol, 1- und 2-Butanol, 1-, 2- und 3-Pentanol, 1-,2- und 3-Hexanol, 1-, 2- und 3-Heptanol sowie 1-, 2- und 3-Octanol [12,13].

2-Chlorvinylarsindichlorid reagiert mit Alkoholen in einer zweistufigen Substitutionsreaktion gemäß dem Schema

Cl(CH=CH)AsCl2 + ROH <--> Cl(CH=CH)AsCl(OR) + HCl

Cl(CH=CH)AsCl(OR) + ROH <--> Cl(CH=CH)As(OR)2 + HCl

zu den jeweiligen, mit GC/ECD erfaßbaren, 2-Chlorvinylarsinchloridether und 2-Chlorvinylarsinbisether. Mit Ausnahme der Ethanol- und Propanol-Derivate sind alle weiteren Verbindungen stabil [12].

Bei Umsetzung von 2-Chlorvinylarsinchlorid mit mehreren Alkoholen (R1OH, R2OH) werden neben den o.g. Derivaten alle möglichen 2-Chlorvinylarsinether der Struktur [Cl(CH=CH)As(OR1)(OR2)] gebildet.

2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid reagiert mit den o.g. Alkoholen in einer Substitutionsreaktion gemäß dem Schema

[Cl(CH=CH)]2AsCl + ROH <--> [Cl(CH=CH)]2AsOR + HCl

zu den jeweiligen Dichlordivinylarsinether [13].

Die Methyl-, Ethyl- und Propylether sind nicht stabil. Mit den weiteren untersuchten Alkoholen bildet sich in der Reaktionslösung ein stabiles Gleichgewicht zwischen 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid und 2,2'-Dichlordivinylarsinether. Die Gleichgewichtskonzentrationen sind nach 30 Minuten erreicht, die Produkte sind bei +4 °C länger als eine Woche stabil. Ausgangs- und Reaktionsprodukte können gaschromatographisch mit ECD-Detektor detektiert werden.

Bei Umsetzung mehrerer Alkohole mit 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid bildet sich ein Gleichgewicht im Verhältnis der eingesetzten molaren Mengen an Alkoholen zwischen 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid und den jeweiligen Ethern aus.



4.3 Reaktion mit Thiolen

2-Chlorvinylarsindichlorid und 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid wurden mit folgenden Dithiolen umgesetzt: 1-Ethanthiol, 1-Propanthiol, Thioglycolsäuremethylester und Thioglycolsäureethylester.

2-Chlorvinylarsindichlorid reagiert mit Thiolen in einer Substitutionsreaktion gemäß dem Schema:

Cl(CH=CH)AsCl2 + 2 RSH --> Cl(CH=CH)As(SR)2 + 2 HCl

zu 2-Chlorvinylarsinbisthioether [16].

Bei Umsetzung von 2-Chlorvinylarsindichlorid mit äquimolaren Mengen an Ethanthiol und Propanthiol werden 18% 2-Chlorvinylarsinbis(ethylthioether), 33% 2-Chlorvinylarsinbis(propylthioether) und 49% 2-Chlorvinylarsin(ethyl,propyl)thioether gebildet.

2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid reagiert mit Thiolen in einer Substitutionsreaktion gemäß

[Cl(CH=CH)]2AsCl + RSH --> [Cl(CH=CH)]2AsSR + HCl

zu Dichlordivinylarsinthioether. Die Reaktion verläuft quantitativ [16].

Bei Einsatz äquimolarer Mengen an Ethanthiol und Propanthiol werden Ethylthioether und Propylthioether im Verhältnis 1:1 gebildet.



4.4 Reaktion mit Dithiolen

2-Chlorvinylarsindichlorid und 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid wurden mit folgenden Dithiolen umgesetzt: 1,2-Ethandithiol, 1,3-Propandithiol, 1,4-Butandithiol, 1,5-Pentandithiol, 1,6-Hexandithiol und 1,8-Octandithiol [14].

2-Chlorvinylarsindichlorid reagiert mit Dithiolen in einer Substitutionsreaktion gemäß dem Schema

Cl(CH=CH)AsCl2 + HSRSH --> Cl(CH=CH)AsS2R + 2 HCl

zu stabilen cyclischen Derivaten [14].

2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid reagiert mit Dithiolen gemäß dem Schema

[Cl(CH=CH)]2AsCl + HSRSH --> [Cl(CH=CH)]2AsSRSH + HCl

quantitativ zu 2,2'-Dichlordivinylarsinthiolthioether [14].

Es wurden Umsetzungsversuche mit äquimolaren Mengen von zwei Dithiolen durchgeführt. Bei 2-Chlorvinylarsindichlorid (zwei freie Substitutionsstellen, cyclische Derivate) ist ein klarer Auswahleffekt erkennbar: die thermodynamisch stabileren Ethandithiol-Derivate (Fünfring) und Propandithiol-Derivate (Sechsring) werden bevorzugt gebildet. Ähnliches Verhalten zeigen Phenylarsindichlorid und Ethylarsindichlorid, die ebenfalls cyclische Verbindungen mit Dithiolen bilden [14].

An dieser Stelle setzen auch die bekannten Antidote gegen eine Lewisit I-Vergiftung ein: Ende der 40er Jahre durchgeführte Untersuchungen zeigten, daß die durch Chlorvinylarsindichlorid, Phenylarsindichlorid bzw. Alkylarsindichloride hervorgerufene Schädigung der Haut durch Dithiole aufgehoben werden kann. Als wirksamstes Dithiol erwies sich 2,3-Dimercaptopropanol, das wegen seiner Antidotwirkung gegen Lewisit I als "British Anti Lewisite (BAL)" bezeichnet wurde. Aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen und einer relativ hohen Eigentoxizität von BAL findet heute als Antidot gegen Hautkampfstoffe vom Lewisit-Typ hauptsächlich Natrium-2,3-Dimercaptopropan-1-sulfonat (DMPS) Verwendung [7].

Bei 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid (eine freie Substitutionsstelle, offenkettige Derivate) ist die bevorzugte Bildung der niedriger molekularen Dithiol-Derivate hingegen, wie bei Diphenylarsinchlorid (Clark I), nur gering ausgeprägt [14].



5 Analytik von Lewisiten

Die chemisch-analytische Untersuchung von Arsenkampfstoffen und ihren Umwandlungsprodukten ist in [15] beschrieben.

2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid und 2,2',2''-Trichlortrivinylarsin sind gaschromatographisch mit Elektroneneinfangdetektor als Originalsubstanz im Spurenbereich erfaßbar (chromatographische Bedingungen s. Kap. 4.1). 2-Chlorvinylarsindichlorid kann nicht erfaßt werden, da es vermutlich thermolabil ist.

Die o.g. Umsetzungsreaktionen von 2-Chlorvinylarsindichlorid und 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid mit Thiolen und Dithiolen können zum analytischen Nachweis und zur quantitativen Bestimmung dieser Substanzen in Wasser- und Bodenproben eingesetzt werden. Neben den Ausgangssubstanzen werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Hydrolyse- und Oxidationsprodukte erfaßt. Durch Einsatz verschiedener Thiole oder Dithiole können aufgrund unterschiedlicher Retentionszeiten der Lewisit I- und Lewisit II-Derivate matrixbedingte Störungen eliminiert werden. In Tabelle 1 sind die Retentionszeiten und Nachweisgrenzen von Arsenkampfstoffen und ihren Umwandlungsprodukten dargestellt (aus [15]).



6 Diskussion

6.1 Thermodynamische Stabilität der Alkohol-, Diol-, Thiol- und Dithiol-Derivate

Bei gleichzeitiger Umsetzung von 2-Chlorvinylarsindichlorid und Alkoholen mit den Dithiolen 1,2-Ethandithiol bzw. 1,3-Propandithiol, dem Diol 1,3-Propandiol sowie den Thiolen 1-Ethanthiol bzw. 1-Propanthiol werden als Hauptprodukte (Umsetzungsrate 94% bis 100%) die thermodynamisch stabileren cyclischen 2-Chlorvinylarsin-Dithiol- und 2-Chlorvinylarsin-Diol- bzw. 2-Chlorvinylarsin-Dithioether-Derivate gebildet [12].

Durch gleichzeitige Umsetzung von 2-Chlorvinylarsindichlorid mit verschiedenen Gemischen von 1-Propanthiol, 1,3-Propandiol, 1,3-Propandithiol (c = 400 µg/ml) bzw. 1-Propanol (c = 50 mg/ml) wurde folgende thermodynamische Stabilitätsreihe der Derivate für R = Propyl ermittelt [L1 = Cl(CH=CH)As]:

L1-S2R >> L1-(SR)2 = L1-O2R >> L1-(OR)Cl und L1-(OR)2 > L1-Cl2

Bei der Umsetzung äquimolarer Mengen verschiedener Dithiole ergibt sich folgende thermodynamische Stabilitätsreihe [14]:

L1-S2Et >> L1-S2Pr >> L1-S2Bu = L1-S2Pe > L1-S2Hex > L1-S2Oc.

Bei gleichzeitiger Umsetzung von 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid mit 1-Propanthiol und Alkoholen wurde als Reaktionsprodukt 2,2'-Dichlordivinylarsinpropanthioether, jedoch keine 2,2'-Dichlordivinylarsinether nachgewiesen. Bei gleichzeitiger Umsetzung von mit äquimolaren Mengen an Ethanthiol und Ethandithiol bzw. Propanthiol und Propandithiol werden die Thiol- bzw. Dithiolderivate in etwa gleichen Verhältnissen gebildet [13,14,16].

Aus diesen Versuchen kann folgende thermodynamische Stabilitätsreihe abgeleitet werden [mit L2 = [Cl(CH=CH)]2As]:

L2-SRSH = L2-SR >> L2-OR > L2-Cl.



6.2 Chemische Modellreaktionen und humantoxische Wirkung

Die aus den chemischen Modellreaktionen abgeleiteten thermodynamischen Stabilitätsreihen lassen sich gut auf die biochemischen Reaktionen und damit die Ursache der humantoxischen Wirkung übertragen:

Primärer Wirkort von 2-Chlorvinylarsindichlorid sind biochemische Moleküle, die zwei Thiolgruppen enthalten, da mit diesen stabile cyclische Komplexe gebildet werden. Die proteingebundene Liponsäure, die in 1,3-Stellung Thiolgruppen enthält, erlaubt die Bildung von Sechsring-Komplexen und stellt damit einen idealen Reaktionspartner für 2-Chlorvinylarsindichlorid dar.

Die Modellreaktionen zeigen, daß 1,2-Ethandithiol (Fünfring) und 1,3-Propandithiol (Sechsring) die stabilsten Komplexe bilden. Diese sind thermodynamisch stabiler als größere Ringe und Monothiol-Derivate.

2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid hingegen bildet mit allen untersuchten Thiolen und Dithiolen stabile Verbindungen, ohne das ein Auswahleffekt erkennbar wäre. Da diese Substanz nicht in der Lage ist, cyclische Derivate zu bilden, werden unspezifisch freie Thiolgruppen von Enzymen und Proteinen angegriffen. In einem weiteren Reaktionsschritt kann die Dichlordivinylarsin-Gruppe z.B. an Glutathion gebunden und damit vom Wirkort entfernt werden, was mit der Chlorvinylarsin-Gruppe nicht möglich ist. Dies ermöglicht allerdings auch eine Verteilung im Körper.

2,2',2''-Trichlortrivinylarsin besitzt keine freie Substitutionsstelle. In Modellversuchen wurde erwartungsgemäß keine Umsetzung mit Alkoholen, Thiolen und Dithiolen beobachtet, auch findet keine Hydrolyse statt. Daraus resultiert eine praktisch vernachlässigbare hautschädigende Wirkung und Reizwirkung dieser Substanz, die höhere Allgemeintoxizität ist auf die Verteilung dieser Substanz mit nachfolgendem biochemischem Angriff der Chlorvinyl-Gruppe zurückzuführen. Die beobachteten Leber- und Nierenschädigungen legen den Schluß nahe, daß die Abspaltung einer Chlorvinyl-Gruppe und damit eine Bioaktivierung bei dem Versuch der Eliminierung in diesen Organen stattfindet.

Da in chemischen Kampfstoffen die Zielsubstanz Lewisit I produktionstechnisch bedingt mit Lewisit II und Lewisit III verunreinigt ist, muß bei Lewisitvergiftungen von einem komplexen Wirkungsgeschehen ausgegangen werden, bei denen die Hautschädigung durch Lewisit I zwar im Vordergrund steht, aber auch die Reizwirkungen von Lewisit II und die allgemeintoxischen Wirkungen von Lewisit III zum Krankheitsbild beitragen.



7 Literatur

[1] Martinez, D.; Rippen, G. (1996): Handbuch Rüstungsaltlasten. Ecomed-Verlag, Landsberg

[2] Haas, R. (1997): Blaukreuzkampfstoffe. Chemisches Verhalten und humantoxikologische Bedeutung von Diphenylarsinverbindungen. 2. Humantoxikologische Bedeutung. Umweltmed Forsch Prax 2, 11-16

[3] Haas, R. (1997): Blaukreuzkampfstoffe (Fallbeispiele). Umweltmed Forsch Prax 2, 250

[3a] Haas, R. (1996): Blaukreuzkampfstoffe. Chemisches Verhalten und humantoxikologische Bedeutung von Diphenylarsinverbindungen. 1. Chemische Reaktionen. Umweltmed Forsch Prax 1, 183-189

[4] Franke, S.; Koehler, K.F.; Zaddach, H. (1994): Chemie der Kampfstoffe. Teil I. Munster

[5] Sawyer, T.W.; Bjarnason, S. (1990): The toxicology of simulants and test compounds used at defense research establishment suffield. Part IV. Suffield Memorandum No. 1313. Ralston, Alberta

[6] Büscher, H. (1932): Grün- und Gelbkreuz. Verlag Himmelheber, Hamburg

[7] Klimmek, R.; Szinicz, L.; Weger, N. (1983): Chemische Gifte und Kampfstoffe. Hippokrates-Verlag, Stuttgart

[8] Anonymus (1977): Chemische Kampfstoffe und Schutz vor chemischen Kampfstoffen. Militärverlag der DDR, Berlin (Ost)

[11] Goldman, M.; Dacre, J.C. (1989): Lewisite: Its Chemistry, Toxikology and Biological Effects. Reviews of Environmental Contamination and Toxicology 110, 76-115

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[13] Haas, R.; Krippendorf, A.; Steinbach, K. (1998): Chemische Reaktionen von Chlorvinylarsinverbindungen (Lewisite). 1. Reaktion von 2,2'-Dichlordivinylarsinchlorid (Lewisit II) mit Alkoholen. UWSF-Z. Umweltchem. Ökotox. 10, 64-65

[14] Haas, R. (1998): Chemische Reaktionen von Chlorvinylarsinverbindungen (Lewisite). 3. Reaktion von Lewisit I und Lewisit II mit Dithiolen. UWSF-Z. Umweltchem. Ökotox. 10, 198-199

[15] Haas, R.; Krippendorf, A.; Schmidt, T.C.; Steinbach, K.; v. Löw, E. (1998): Chemisch-analytische Untersuchung von Arsenkampfstoffen und ihren Metaboliten. UWSF-Z. Umweltchem. Ökotox. 10, 289-293

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Tabelle 1: Retentionszeiten (Rt) und Nachweisgrenzen (NWG) von Arsenkampfstoffen und Derivaten; chromatographische bedingungen siehe Kap. 4.1



Substanz
Thiol
Rt(min)
NWG(ng)

DICK

---

2,8

3,5

PFIFFIKUS

---

7,79

4,0

CLARK I

---

13,77

0,6

CLARK II

---

14,37

0,3

LEWISIT II

---

6,93

0,35

LEWISIT III

---

9,3

0,03

CLARK I,II

EtSH

16,21

0,6

LEWISIT I

EtSH

10,71

0,4

LEWISIT II

EtSH

10

0,3

CLARK I,II

PrSH

17,44

0,6

LEWISIT I

PrSH

12,82

0,4

LEWISIT II

PrSH

11,1

0,3

DICK

Et(SH)2

7,66

1,3

PFIFFIKUS

Et(SH)2

13,95

0,1

LEWISIT I

Et(SH)2

10,6

0,2

DICK

Pr(SH)2

9,38

3,5

PFIFFIKUS

Pr(SH)2

15,45

0,2

LEWISIT I

Pr(SH)2

12,02

0,2







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